Engel Eduard im Einsatz
Eduard steht im begehbaren Kleiderschrank, den er
und seine Zwillingsschwester Patrizia sich teilen, und
starrt wütend auf das lange, weiße Gewand.
Eigentlich wollte er seinen Ski-Anzug suchen. Übermorgen
soll es nämlich zum Silvesterurlaub nach Garmisch
gehen. Dann ist ihm das Gewand wieder ins Auge gefallen.
Blödes Ding! Aber Maras Mutter wollte, dass alle
Sänger im Engelschor ein weißes Gewand tragen.
Dabei wollte Eduard nur ein Klavierstück im Weihnachtsgottesdienst
spielen und war deshalb zum Kindergottesdienst gegangen,
in dem das Krippenspiel in unterschiedlichen Gruppen
vorbereitet wurde. Und dann war er im Chor gelandet.
„Soloauftritte gibt es nicht!“ hatte Frau
Reichelt gesagt. Wenn bloß das Gewand nicht gewesen
wäre. „Na, mein Engel!“ hatte seine
Mutter nach dem Gottesdienst gesagt und ihm in die Wange
gezwickt. „Patrizia der Bengel und du der Engel“,
hatte sein Vater festgestellt. „Ab heute nennen
wir dich Erzengel Eduard!“ Und Frau Sendenlaub,
die Leiterin des Kindergartens, war auf ihn zugekommen
und hatte gesäuselt: „Nein, Eduard, mein
Lieber, was bist du doch für ein goldiges Engelchen!
Diese blonden Haare und dieses glänzende Kleidchen!
Nur die Wangen sind ein wenig blass.“ Und dann
hatte sie ihn gebeten, zu Ostern im Kindergarten den
Engel am Grab zu spielen. „Aber bitte mit dem
Kleidchen! Und es stünde dem Engelchen gut, wenn
du die Haare länger wachsen lassen würdest.
Hattest du eigentlich als Bub Löckchen?“
Eduard reißt das Gewand vom Bügel und knüllt
es in die hinterste Ecke. Sogar in der Schule hatte
er sich verspotten lassen müssen. Und die anderen
Straxe hatten beim Treffen im Schreberschuppen nachgeschaut,
ob ihm schon Flügel gewachsen waren. Natürlich
nicht! Wenn er doch bloß nie als Engel im Engelschor
gesungen hätte!
Eduard schiebt sein Fahrrad aus der Garage. Immer, wenn
er wütend ist, rast er mit seinem Fahrrad durch
die Gegend. Wenn niemand in der Nähe ist, tritt
er gerne aus voller Fahrt gegen die Mülltonnen.
Die knallen immer so schön auf die Straße.
Und wenn sie richtig herum fallen, klatscht der Deckel
auf und der Müll fliegt auf den Gehweg. Eduard
tritt in die Pedale. Da hinten steht schon eine Mülltonne.
Eduard tritt mit Wucht dagegen. Mit Getöse knallt
die Mülltonne um und die vollen Müllbeutel
fliegen herum. Eduard kichert und gibt richtig Gas.
Da hinten stehen sogar zwei. Eduard will gerade mit
dem Fuß ausholen und mit Wucht davor treten, als
er die Einkaufstasche sieht, die hinter den Tonnen liegt.
Sie ist umgefallen. Eduard bremst ab. Eine Apfelsine
ist sogar bis auf die Straße gerollt. Eduard kommt
an den Mülltonnen zum Stehen. Dann sieht er es.
Hinter den Mülltonnen, hinter der Hecke zur Hofeinfahrt,
liegt jemand auf dem Boden. Eduards Herz schlägt
auf einmal bis zum Hals. Wer das wohl ist? „Hallo?“
fragt Eduard und steigt vom Rad. Die Gestalt am Boden
bewegt sich und dreht mühsam den Kopf. Eine alte
Frau ist es. Ein Gehstock liegt neben ihr. Und aus der
Tasche sind Joghurtbecher gefallen und aufgeplatzt.
Eduard beugt sich zu der alten Frau hinunter: „Hallo?“
„Dich schickt der Himmel!“ sagt die Frau.
„Seit einer Stunde liege ich hier und kann nicht
alleine aufstehen.“ „Ist Ihnen etwas passiert?“
fragt Eduard. „Ich glaube nicht“, antwortet
die Frau. „Soll ich Hilfe holen?“ fragt
Eduard. „Gib mir erst mal deine Hand und hilf
mir, damit ich mich aufrichten kann“, bittet die
Frau. Als Eduard der Bitte nachkommt und am Arm zieht,
stöhnt die Frau laut auf. „Meine Hüfte
tut weh!“ klagt sie. „Ich rufe den Krankenwagen!“
sagt Eduard. „Ich habe mein Handy dabei.“
Wie gut, dass neulich die Polizei in der Schule war
und in der Aula alle über das richtige Verhalten
in Notfällen informiert hat . Eduard wartet mit
der alten Frau, bis der Krankenwagen eintrifft.
Eduard dreht aufgeregt den Blumenstrauß in der
Hand und blickt auf die Zimmernummern. Der Flur im Krankenhaus
will und will kein Ende nehmen. An der Rezeption hatten
sie gesagt, die Frau, die mit dem Krankenwagen eingeliefert
worden ist, läge auf Zimmer 234. Hier ist erst
Nummer 216. „Geh doch ins Krankenhaus und besuche
sie!“ hatte Eduards Mutter gesagt, als er gestern
Abend von dem Erlebnis erzählt hatte. „Und
bring ihr ein paar Blumen mit!“ hatte sein Vater
empfohlen und ihm 20 Euro zugesteckt. „Hier ist
224“, bemerkt Patty. Alleine hatte Eduard sich
nicht getraut. Seine Schwester war gerne bereit gewesen,
ihn zu begleiten. „234“, sagt Patty. Eduard
holt tief Luft und öffnet die Zimmertür. Hinten
links liegt sie, die alte Frau. Sie hat die Augen geschlossen.
„Hallo!“ sagt Eduard und tritt an ihr Bett.
Die Frau schlägt die Augen auf und blickt Eduard
an. Es dauert einen Moment, dann lächelt sie. „Da
ist ja mein Engel!“ sagt sie leise. Patty kichert.
Aber das macht Eduard gar nichts aus. „Ich heiße
Eduard“, sagt er und hält ihr den Blumenstrauß
entgegen. „Und ich heiße Edeltraut“,
sagt die alte Frau und lacht sogar. |